Text zur Ausstellung

Vor der Moderne stand die Kunst im Dienst der Darstellung von Mensch und Welt im Sinne von Adel und Kirche. Die Moderne beginnt mit der autonomen Kunst, die sich aus diesem Dienst befreit. Seitdem stellt sich die Kunst die Frage wozu sie da ist und was sie darstellt, also auch was Realität, besonders ihre eigene Realität ist. Wenn Realität das ist, was sich aus den Verhältnissen der Menschen zueinander und zu ihrer Umgebung ergibt, dann ist auch die Kunst ein Produkt dieser Verhältnisse. Kunst, die sich selbst in Frage stellt, macht diese Verhältnisse sichtbar und stellt damit eine Provokation dar, weil Sie so die Machtverhältnisse in der Gesellschaft und im Kunstfeld offenlegt. Zugleich entzieht sich die Kunst damit diesen Verhältnissen und beweist ihre Autonomie. Die Kunst als Gegenrealität stellt die Realität als scheinbar festgelegte Verhältnisse in Frage, löst diese auf und betrachtet sie in ihren Möglichkeiten. Sie öffnet und geht neue Wege und ist damit eine Praxis der Freiheit.

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Der Realismus Courbets stellt nicht mehr Fürsten dar, sondern mit den „Steineklopfern“ die mühsame Arbeit als reales und durch die Kunst bis dahin verdrängtes Fundament der Welt. Manet zeigt mit seiner „Olympia“ statt eines idealisierten Frauenaktes eine reale Prostituierte und löst einen Skandal aus. Der Impressionismus analysiert die Realität des Bildes als Produkt des Sehens: bei näherer Betrachtung löst sich das Bild in einzelne Punkte auf, bei grösserem Abstand bilden die Punkte zusammen wiedererkennbare Formen. Der Kubismus entlarvt den Bildraum und die Figur als zweidimensionale Täuschung. Die Abstraktion ist unter anderem ein Produkt der Erkenntnis, dass das, was wir als Realität wahrnehmen nichts ist im Vergleich zu dem, was wir selbst nicht mehr wahrnehmen können, von dem wir aber mit Hilfe von Naturwissenschaft und Technik wissen, dass es da ist oder auf esoterische Weise überzeugt sind, dass es da ist. Im Informel, der Abstraktion der 50er Jahre geht es nicht mehr um die Realität im Bild, sondern die Realität des Bildes selbst als Aktion des Malens und als Material d.h. Farbe und Leinwand. Der neue Realismus wiederum ist weder Darstellung noch Gestaltung von Realität, sondern zeigt, was die Realität selbst hervorbringt: Spoerri klebt die Dinge einer Tafel, auf der zuvor gegessen, getrunken und geraucht wurde fest und kippt diese um 90 Grad. Alle diese Beispiele stellen in ihrer Zeit in Frage was Kunst ist und öffnen den Blick dafür, was Realität ist.

Im Jahr 1960 hat Spoerri zum ersten Mal die Dinge auf der Tischplatte seines Hotelzimmers in Paris fixiert. In der Folge hat er in einem eigenen Restaurant und zu besonderen Gelegenheiten Essen veranstaltet, bei denen irgendwann die Falle zuschnappt: alles muss stehen und liegen gelassen werden und wird so auf der Unterlage fixiert. Die Ausstellung zeigt auf diese Weise entstandene „Fallenbilder“ aus der „Sevillaserie“. Besser als mit Duchamps Ready Mades, mit denen er behauptet, dass erst der Ausstellungskontext, also das Museum die Kunst zur Kunst macht, z.B. das Pissoir oder der Flaschentrockner, sind die „Fallenbilder“ mit John Cages Musikstück 4:33 min zu verstehen: Ein Pianist spielt „4:33 min“ lang keinen Ton. Damit öffnet Cage ein Zeitfenster, in dem die Aufmerksamkeit auf die Geräusche ausserhalb und innerhalb des Konzertsaals, vor allem des Publikums und des einzelnen Zuhörers selbst ausgerichtet wird. Das Zeitfenster ist ein akustisches Fallenbild, das die Unendlichkeit an Tönen und Geräuschen nicht nur innerhalb dieses Zeitraums, sondern darüber hinaus in der Realität überhaupt bewusst macht. Damit macht Cage auch auf eine Grundbedingung der Kunst aufmerksam: das, was von sich aus da ist, wird weggeräumt oder verdrängt, um dem, was gezeigt werden soll, Platz zu schaffen. Indem der Pianist nicht spielt, zeigt sich die Unendlichkeit dessen, was durch sein Spiel verdrängt wird. In diesem Sinn besteht kein Unterschied zwischen Kunst und Alltagsrealität. Auch hier wird das, was von sich aus da ist, ignoriert und nur noch das gesehen, was der jeweiligen Absicht dient, z.B. der Hammer, um ein Bild an die Wand zu hängen. Dieses Tabula Rasa machen führt in der Musik zur (vermeintlichen) Stille und in der Malerei zur weissen Leinwand Rauschenbergs. Spoerri dagegen macht nicht reinen Tisch, sondern hält fest, wie sich die Realität auf diesem Tisch in einem bestimmten Moment abspielt. Für diejenigen, die an Spoerris Essen teilnehmen und nicht wissen, wann die Falle zuschnappt, wird wie in Cages „4:33 min“ so nicht nur jeder Moment mit seinen unendlich vielen und zufälligen Details bewusst, sondern auch wie sie diesen mitgestalten.

Eine andere Strategie Spoerris die Realität festzuhalten besteht darin Dinge zu sammeln und in Collagen zu kombinieren. Damit reagiert Spoerri auf die Konsumgesellschaft, die Ende der 50er Jahre mit dem Wirtschaftsaufschwung entstand. Neue Produkte in neuer Warenästhetik haben die gesamte Alltagswelt in kürzester Zeit ästhetisch verändert. Die alten ausgedienten Objekte fallen zugleich der Wegwerfgesellschaft zum Opfer, eine Welt verschwindet. Während die Pop Art die neue Produktwelt und die Werbung dafür enthusiastisch begrüsst, sammelt Spoerri die alten Dinge auf Müllhalden und Flohmärkten. Indem Spoerri das Ausgegrenzte, Verdrängte Weggeschmissene, Unbrauchbare der Gesellschaft sammelt, Gegenstände die aus ihrem Nützlichkeitskreislauf gefallen sind, die in der Ordnung der Dinge keinen Platz mehr haben macht er das System Kultur mit seinen Mechanismen der Entwertung und Ausgrenzung bewusst: „man muss die Realität selbst zum Schauen geben. Nicht ihre Schokoladenseite, sondern Mist, Abfall, den abgefressenen Tisch.“ Als er in Paris als Touristenführer arbeitet zeigt er nicht den Eiffelturm, sondern die Bidonvilles, die Elendsviertel.

In seinen Collagen bringt Spoerri seine Fundstücke zusammen und reproduziert das absurde Nebeneinander von Alltäglichem und Fremden aus verschiedenen Bereichen, Zeiten und Gegenden, das auch die Realität ständig hervorbringt. Das surrealistische Motto vom zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch manifestiert sich in diesen Collagen ebenso wie die romantische Fragmentsammlung und die Postmoderne Vorstellung von der Gleichräumigkeit und Gleichzeitigkeit aller Dinge. Auch mit diesen Collagen entlarvt er jede Ordnung und jedes System als willkürlich, insbesondere aber auch unsere Museen mit ihrer strikten Trennung zwischen den unterschiedlichen Bereichen. Spoerris Sammlungen und Collagen erinnern eher an deren Vorgänger, die Wunderkammern und Kuriositätenkabinette, in denen Kunstwerke gleichwertig neben Globen und Teleskopen, Tierpräparten und eingelegten Missbildungen standen und so das Staunen über die Vielfältigkeit der Welt erregten.

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