«Was für Kirchner reale und direkt erlebte Gegenwart oder gar Zukunft war, ist bei Baselitz Vergangenheit. Das inzwischen Geschehene wiegt zu schwer. Gerade weil in der gleichen expressiven Methode geschaffen, zeigen uns diese beiden künstlerischen Werke ihre jeweiligen unterschiedlichen Befindlichkeiten um so eindringlicher. Im Vergleich wird das Unvergleichliche offenbar.» (Wolfgang Henze)
In der Vita der beiden grossen deutschen Künstler bildet das Jahr 1938 einen existenziellen Spiegelpunkt: Todesjahr von Kirchner – Geburtsjahr von Baselitz. Ingeborg Henze-Ketterer und Wolfgang Henze haben darauf hingewiesen, dass Leben und Karriere der beiden seltsam spiegelbildlich sind, «in umgekehrter Reihenfolge, sozusagen auf den Kopf gestellt.»
Janusköpfig nennt denn auch Anselm Wagner das unvergleichliche Paar: «Während Kirchner nach vorne blickt, schaut Baselitz im Sinne der Postmoderne zurück auf den Fundus der Kunstgeschichte, um aus Bildern immer weitere Bilder zu generieren» . Gegensätzliches fordern Kirchner und «Brücke» 1905, nämlich den gesteigerten Ausdruck eines neuen Lebensgefühls «unmittelbar und unverfälscht» im Werk zum Ausdruck zu bringen, dies entspricht einer Fortschrittseuphorie, welche Baselitz und seiner Generation völlig fremd geworden ist. Das inzwischen Geschehene wiegt, wie eingangs erwähnt, zu schwer und die Werke von Baselitz entstehen vornehmlich in der Erinnerung, Reflexion und Neuformulierung von Bildern der Vergangenheit – stets «expressiv, aber nicht expressionistisch» . Konsequent entsteht so ab 2005 die sogenannte Remix-Serie, worin die retrospektive Recherche des eigenen Werkes zum künstlerischen Konzept erklärt wird und in Zeichnungen, Druckgrafik und Malerei seinen Ausdruck findet. Die in unserer Ausstellung gezeigten «Remix» Holzschnitte mit Titeln wie «Der Hirte», «Maler im Mantel – zwei Stiefel» oder «Poet in Stiefeln» sind allesamt Wiederholungen der bedeutenden Heldenbilder, die Baselitz in den 60er Jahren schuf. Rhythmisch und mit starker Präsenz sind die total sechs grossformatigen Holzschnitte, die Helden von Baselitz, im Ausstellungsraum verteilt und brechen die in chronologischer Reihenfolge gehängten Werke von Ernst Ludwig Kirchner, die einen Querschnitt durch seine Schaffensjahre zeigen.
Kirchners zentral gehängter Holzschnitt «Die Freunde» nähert sich nicht nur durch seine Dimensionen dem Format von Baselitz an, der grösste von Kirchner je geschaffene Holzschnitt findet auch über seinen Titel Bezug zu den Helden von Baselitz: Bei beiden Künstlern sind die bezeichnenden Figurendarstellungen Ausdruck eines künstlerischen Anspruches, autonome Werke zu schaffen und damit Kunst zu ermöglichen, die von allgemeiner Bedeutung ist und über Ihre Zeit hinaus Bestand hat und nicht nur eine Episode darstellt. Kirchner wie Baselitz umkreisen in Ihrem Werk immer wieder solche zentralen Motive und beschäftigen sich damit intensiv über einzelne Werkphasen und über Jahrzehnte hinaus. Die damit einhergehende Geste der Wiederholung, die so auch in der Remix-Serie angelegt ist und Baselitz immer schon nahe war, ist Kirchner – gut zwei Generationen früher geboren – alles andere als fremd. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk ist auch bei ELK Konzept, dafür sprechen seine Überarbeitungen und Übermalungen älterer Werke, Umdatierungen, Fotoretuschen, aber auch seine selbst verfassten Kunstkritiken zu seinem Werk unter dem Pseudonym Louis de Marsalle. Immer wieder aufs Neue findet die Auseinandersetzung mit dem eignen Werk bei beiden Künstlern in der direkten und exzessiven Bearbeitung eines Motivs ihren Niederschlag. In unterschiedlichen künstlerischen Techniken und ohne hierarchische Gewichtung nutzen Baselitz und Kirchner die Wiederholung als Methode, um Werke mit hoher Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit zu schaffen. Daraus resultiert eine gesteigerte Wiedererkennung (das Qualitätsmerkmal jeder erfolgreichen Marke), welche sowohl Kirchner als auch Baselitz als bedeutende Protagonisten der Kunst Ihrer Zeit für ihr Werk in Anspruch nehmen können.
Analog zu den sechs Remix Holzschnitten von Georg Baselitz, versammelt die Ausstellung im Obergeschoss der Galerie ausgewählte Holzschnitte von Ernst Ludwig Kirchner, welche in seinem Œuvre immer auch als Motiv in Form von Gemälden oder in anderen Techniken existieren. Zu sehen sind Werkbeispiele aus allen Schaffensjahren, wie die frühen Arbeiten der Brücke-Zeit «Blühende Bäume» und «Liegender Akt», sowie die in den Schweizer Jahren entstandenen Drucke «Stafelalp bei Mondlicht» und die «Lagernden Bauern», dessen Fassung in Öl auf Leinwand in der Sammlung des Kunstmuseum Bern ist. Weiter sind Arbeiten vertreten, die Kirchners «neuen Stil» der später 1920er Jahren repräsentieren, wie etwa «Pianist mit Sängerin» und der herausragende Farbholzschnitt «Drei Akte im Wald», von welchem unsere Galerie auch entsprechende Zeichnungen und Skizzen anbieten kann. Abschluss der Ausstellung bildet die programmatische Gegenüberstellung des Remix «Maler im Mantel – zwei Stiefel» von Baselitz mit dem kurz vor Kirchners Tod entstandenen letzte Holzschnitt des Werkverzeichnisses von Ernst Ludwig Kirchner mit dem Titel «Emporsteigender».
Die von Patrick Urwyler kuratierte Ausstellung im Obergeschoss der Galerie Henze & Ketterer in Wichtrach/Bern wird von einer online Ausstellung begleitet, in der die gezeigten Werke ihrem korrespondierenden Gemälde gegenübergestellt werden.