Text zur Ausstellung

Der Tanz ist das stärkste Ausdrucksmittel der menschlichen Seele.

(Thomas Niederreuter)

Bereits seit der Antike ist Tanz, oft begleitet von Musik oder Klangkompositionen, ein grundlegender Bestandteil des menschlichen Lebens. Tatsächlich war diese Disziplin sehr wahrscheinlich in allen Kulturen präsent, so im Alten Ägypten, dem antiken Griechenland, bei den Etruskern und Römern, meist vollführt bei Ritualen, Zeremonien, Volksfesten, jedenfalls stets in einer kollektiven Zusammenkunft. Noch heute zeugen Wandmalereien, Vasenverzierungen, Mosaike und Fresken von den frühen Bewegungsabläufen, die oftmals im Zusammenhang einer Religion, aber auch als Kult vollzogen wurden. So wurde ebenfalls auch die Veranschaulichung von Musik frühzeitig überliefert.

Da Musik selbst nicht darstellbar ist, war es seit der Antike bis zur Gegenwart ein höchstes Anliegen, dem Betrachtenden ihrer Bilder Melodien und deren vielfältige Stimmungsgehalte näher zu bringen. Dies beschränkte sich in der Bildenden Kunst vorerst auf die Darstellung von Musiker:innen und den Instrumenten. Folglich wurde somit nicht nur die Entwicklung der Musik dokumentiert, es ergaben sich dadurch immer wieder neue Darstellungsformen von Musik in der Bildenden Kunst.

Tatsächlich hatte der Tanz, genau wie die Bildende Kunst, mit der ab 1900 einsetzenden Moderne eine Erneuerung und ein neues Verständnis von Körperlichkeit und Bewegung gesucht. Für beide Gattungen war der «neue Mensch» der sich frei bewegende Mensch.  Die Moderne bedeutete einen Bruch mit Traditionen, die bislang im Leben, Gesellschaft und Kultur bestanden: Urbanisierung, Massenindustrie, technischer Fortschritt und wissenschaftliche Erkenntnisse wie Sigmund Freuds (1856-1939) «Psychoanalyse» rücken im frühen 21. Jahrhundert zunehmend die Subjektivität und Individualität des Einzelnen in den Vordergrund. Diese Impulse der Zeit werden auch in der Musik und im Tanz aufgenommen und sichtbar.

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So entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg ein expressiver Tanzstil. Im Zentrum dessen standen Individualität, Improvisation und Solotanz. In Deutschland war die Entwicklung des sogenannten «Ausdruckstanzes» besonders stark vom Individualismus und der Gestaltung «qualitativ neuer Tanzbewegungen»  geprägt. Neben der Ballettbühne, die vom Ausdruckstanz bevorzugt wurde, und neben der experimentellen Bühnenwerkstatt war das Varieté ein wichtiger Ort tänzerischer Praxis.

Der Tanz, aber auch die Musik entstanden in dieser Zeit aus dem inneren Antrieb bewegter Menschen, als körperlicher Ausdruck der inneren Empfindungs- und Erlebniswelt, dem Wandel und Wechsel seelischer Zustände. Der Rhythmus sollte körperlich sichtbar gemacht und der Körper auf diese Weise von Einengung und Zwängen befreit werden.

Ausdruckstanz wurde in den 1920er Jahren durchaus auch nackt getanzt. Daher finden sich Darstellungen davon oft im Freien in der Natur, am Wasser, am Strand, in Wäldern und auf Wiesen, die den menschlichen nackten Körper in einem neuen naturalistischen Körper- und Schönheitsgefühl darstellen.  Tanz galt nun als Metapher für Sexualität, das Verhältnis der Geschlechter und die Kunst im Allgemeinen.

So wie sich die «Brücke»-Künstler rund um Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Erich Heckel (1883-1970), Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) und Emil Nolde (1867-1956) von der Akademiekunst abwanden, tat dies auch der moderne Tanz gegen das klassische Ballett, bei dem sich der Körper in Korsett, Tutu und Spitzenschuhe zwängte und unnatürliche Bewegungen vollführte: «Dort, wo das Wissen um die Dinge aufhört, wo nur das Erlebnis Gesetz ist, dort beginnt der Tanz. […] Nicht ‘Gefühle’ tanzen wir! Sie sind schon viel zu fest umrissen, zu deutlich. Den Wandel und Wechsel seelischer Zustände tanzen wir, wie er sich in jedem Einzelnen auf seine besondere Art vollzieht und in der Sprache des Tanzes zum Spiegel des Menschen, zum unmittelbarsten Symbol alles lebendigen Seins wird.»  Im Zitat einer der wichtigsten Tänzerinnen, Choreografinnen und Tanzpädagoginnen ihrer Zeit, Mary Wigman (1886-1973), ist angelegt, was ab dann unweigerlich mit der Moderne verbunden sein wird: der innere Ausdruck und die Vergewisserung nach der eigenen Existenz werden essentiell und zur Inspirationsquelle.

Die Unmittelbarkeit und freie Auslebung von Gefühlen nahm Wigman in ihren expressiven Tanzexperimenten auf, die sie mit Rudolf von Laban in Monte Verità in Ascona abhielt und später in eigenen Tanzstudios, beispielsweise in Dresden, weiterentwickelte. Immer stand die Expressivität des Körpers, ausgedrückt im Tanz, im Vordergrund. Eine «Verzauberung durch Verzerrung»  wie Wigman die verdrehten, verwinkelten und abrupten Bewegungen nannte, die nicht nur dem klassischen Ballett, sondern auch dem bürgerlichen Ideal von Ordnung und Einheit diametral entgegenzustehen schienen. Hierin und in seinem übergeordneten Ziel, individuelle Emotionen abzubilden, überschnitt sich der von Wigman geprägte Ausdruckstanz, auch «Freie Tanz» genannt, mit der damals avantgardistischen Kunstrichtung des deutschen Expressionismus und seiner Vertreter um die «Brücke».

So notierte ein in helle Aufregung versetzter Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) nach seinem Besuch von Wigmans Tanzstudio in Dresden am 16. Januar 1926 in seinem Tagebuch: «Die neue Kunst ist da. M.W. benutzt vieles aus den modernen Bildern unbewusst, und das Schaffen eines modernen Schönheitsbegriffes ist ebenso in ihren Tänzen am  Werke wie in meinen Bildern. […] Der Zusammenhang von dem Bestreben der W. mit meinem der Darstellung der modernen Schönheit ist zweifelos.»  In unzähligen Skizzen und Zeichnungen hielt Kirchner auf Papier fest, was sich ihm als stiller Beobachter während der Tanzproben im Dresdner Residenzschloss bot: der menschliche Körper in freier Bewegung, so «unmittelbar und unverfälscht» , wie es die «Brücke» in ihrem Programm 1906 für die Kunst formulierte und es bei Wigman getanzt wurde. Ein Hauptwerk der Ausstellung, das Kirchner auf Basis von Zeichnungen vor Ort und später in Davos schuf, ist das farbgewaltige Gemälde «Totentanz der Mary Wigman» (1926-28). In abwechselnden Farben und Formen hält Kirchner in der für ihn zu dieser Schaffensperiode typisch gewebeartigen Struktur («Davoser Teppichstil») fest, wie Wigman die volkstümliche Erzählung der tanzenden Toten neu interpretiert. Im selben rhythmitisierenden Prinzip wie in den wiederholenden Elementen des Ausdrucktanzes wird die Synergie von Expressionismus und Tanz auf eindrucksvolle Art sichtbar.

Ähnlich wie der «Tod» und der «Totentanz» als ikonografisches Thema insbesondere in den 1920er Jahren einen Höhepunkt erreichten, als die zerstörerische Brutalität des Ersten Weltkrieges und die Weltwirtschaftskrise dieser Jahre existenzbedrohende Folgen offenlegten, so nahmen die Künstler der Moderne die Tanzcafés, Varietés, Zirkusse und Cabarets in ihren Werken auf, die im Zuge der aufkommenden europäischen Metropolen anfingen das grossstädtische Nachtleben zu prägen. Ähnlich zu Kirchner und seinen «Brücke»-Freunden arbeitete Georg Tappert (1880-1957) in Berlin, das vor und nach dem Ersten Weltkrieg zum Zentrum aller expressionistischen Künste wurde und ein überbordendes Freiheitsgefühl bot. Im Ausstellungswerk «Mädchen am Tisch (Betty mit Fächer)“ (1913) hält Tappert sein um 1913 bevorzugtes Modell Betty im Moment des Zurechtmachens vor dem Auftritt auf einer der unzähligen Tanzbühnen der pulsierenden Grossstadt fest. Er erreicht dabei eine solch intensive Farbigkeit, wie sie nur vergleichbar mit der Serie an Strassenszenen von Kirchner ist.

Ein ganz anderes Zeugnis seiner Zeit und der Darstellung von Tanz und Musik in der Moderne bietet das grossformatige Gemälde «Älplerkirchweihtanz (Bauerntanz)» (1922) des Malers Philipp Bauknecht (1884-1933). In eindrucksvollen Komplementärkontrasten und in einer leuchtenden, schier unbändig erscheinenden Farbigkeit wird der traditionelle Tanz zu einem expressionistischen Fest, in welchem die Gesichter der tanzenden Bauern in beinahe befremdender Manier verzerrt und defomiert sind. Der Künstler sucht hier keine genrehafte Abbildung des bäuerlichen Tanzes, sondern stellt das Typenhafte der Figuren und das Archaische ihrer Lebenswirklichkeit dar – sie werden zu einem «Gleichnis des Lebens» erhoben.

Den künstlerischen Erforschungen des Tanzes und der Musik im Expressionismus werden in der Ausstellung die abstrakten Werke von Fritz Winter (1905-1976) und Bernard Schultze (1915-2005) gegenüberstehen. Als Bauhausschüler bei Paul Klee leistete Winter im Spagat zwischen diesem, Naum Gabo und den abstrahierenden Grossformaten von Ernst Ludwig Kirchner in langen Davoser Aufenthalten seinen deutschen Beitrag zur "abstraction création" der 1930er Jahre. Dabei werden in Werken wie «Rhythmen I» und «Die dunkle Orgel» seine Untersuchungen hinsichtlich musikalischer Themen offensichtlich, die Winter in verschiedenen Versuchsreihen – ähnlich der Musik – durchvariierte. Den strengen Linien, Kreisen und reduzierten Formen Winters vor monochromen Hintergrund, die wie in die Kunst übersetzte Noten und Töne erscheinen, kontrastieren Bernard Schultzes (1915-2005) organischen und farblich abwechslungsreichen Gemälden. In diesen werden die Betrachter:innen in eine ungegenständliche Welt, die dennoch figürliche Tendenzen aufweist, hineingezogen – ähnlich zur abstrakten Natur der Musik, der jedoch auch ein flüchtiger Moment des «Greifbaren» innewohnen kann, wenn eine bestimmte Ton- oder Klangabfolge eine individuelle Erinnerung, einen Gedanken oder ein Gefühl zu Tage bringen kann.  

Wir möchten Sie herzlich einladen, diesen besonderen Momenten in unserer neuen Ausstellung in Riehen «EXPRESSIV! Musik & Tanz in der Moderne» nachzuspüren und Ihre ganz persönlichen Bezüge zu den Themen «Musik & Tanz» aufleben zu lassen. Lassen Sie sich von den unterschiedlichen Darstellungen der Tanzenden und Musizierenden inspirieren, welche die Künstler des Deutschen Expressionismus und der Abstraktion eingefangen haben.

Susanne Kirchner und Katharina Sagel

Die Ausstellung ist Teil unserer neuen Ausstellungsreihe «EXPRESSIV!». Hier stellen wir unter einem bestimmten Thema verschiedene Künstler:innen, Bildmotive und Schaffensperioden des Deutschen Expressionismus und von ihm beeinflussten Kunstströmungen vor.

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