Text zur Ausstellung

Am Anfang einer jeden menschlichen Beziehung steht die Begegnung. Im Zusammentreffen zweier oder mehrerer Menschen wird das Erkennen, Verstehen und Beantworten eines «Du», einer anderen Person, bewusst gemacht.Indem das «Ich» auf den oder die Anderen eingeht, gemeinsame und unterscheidende Themen erkennt und in den Dialog tritt, trägt es zu einer Form seines Existenzvollzugs bei. Dies gilt auch für die Kunst, liegen doch einigen der wichtigsten Entwicklungen der Moderne Begegnungen zugrunde, wie Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) den Auftakt seines künstlerischen Wirkens in seinem Tagebuch nachträglich beschrieb: «So lernte ich einen anderen Studenten kennen, der meine Arbeiten sah und mir seinen Bruder brachte, Erich Heckel, damit er bei mir zeichnen könnte. So wurden wir Freunde. Ich sah sofort, dass ich einen geborenen Maler vor mir hatte. […] Eines Tages brachte er Schmidt-Rottluff mit, einen Menschen mit denselben flammenden Augen wie er sie hatte […].»Das Aufeinandertreffenvon Kirchner, Erich Heckel (1883-1979) und Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976) mündete 1905 in Dresden in der Gründung der Künstlervereinigung «Brücke» und einer fortan beginnenden Suche nach einer neuen Bildsprache: Durch die gemeinsame Erkenntnis bestärkt, die Kunst von ihren akademischen Doktrinen zu befreien, entwickelten sie den revolutionären, radikalen und unverkennbaren «Brücke»-Stil. Es ist die Geburtsstunde des Deutschen Expressionismus.

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Doch nicht nur die Begegnung untereinander wirkte fruchtbar und trug zur Gründung der «Brücke» bei, auch das Zusammentreffen mit Freunden, Partnern, Sammlern, Kunsthändlern, Tänzern und anderen Kunstschaffenden wurde zur Inspirationsquelle für die gemeinsame Kunst. In dutzenden Werken lassen sich Menschen finden, die der «Brücke» begegneten und zu ihren teils jahrelangen Begleitern wurden. Auf ihre Spuren begibt sich die neue Ausstellung «MOMENTE DER BEGEGNUNG – Die ‘Brücke’ und ihre Modelle» und rückt die vielfältigen Beziehungen der Maler mit ihren Modellen ins Licht. Diese in Öl gemalten, auf Papier gezeichneten, in Holz geschnittenen oder in Platten geritzten Porträts, Akte und Figuren zeugen von den jeweiligen Momenten der Begegnung mit Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Otto Mueller (1874-1930), Hermann Max Pechstein (1881-1955) und Emil Nolde (1867-1956). Sie geben Urteil über Lebensabschnitte, Entwicklungen und künstlerische Interessen der Künstler, sind oftmals ein Spiegelbild der ganz eigenen emotionalen Verfassung.

So wurde Ernst Ludwig Kirchners persönliches «Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frau unserer Zeit»[5] im Jahr 1911 bedeutsam geprägt, als er die Schwestern Gerda und Erna Schilling (1884-1945) in einem Berliner Nachtlokal kennenlernte. Letztere sollte ihn bis zu seinem Tod begleiten und Muse für unzählige Porträt- und Aktstudien werden. In «Die Arbeit E.L. Kirchners» hält Kirchner dazu fest: «Die Gestaltung des Menschen wurde durch meine dritte Frau (Erna), eine Berlinerin, die von nun an mein Leben teilte, und deren Schwester stark beeinflusst. Die schönen architektonisch aufgebauten strengförmigen Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab.» Die Bekanntschaft mit Erna führte zu einer neuen zeitgemässen Ausdrucksform in der Grossstadt Berlin, in die der Künstler 1911 übersiedelte, und die sich von den Dresdner Jahren durch eine zackigere Strichführung und in ihrer Leuchtkraft nachlassenden Farben unterschied. Die um 1912 geschaffene Tuschezeichnung «Frau im Grünen (Erna)» lässt diese stilistische Veränderung beispielhaft verfolgen: Unruhige Pinselstriche stossen auf kantige, überstreckte Gesichtsformen.

Eine weitere bedeutungsvolle Begegnung Kirchners zeigt sich im Holzschnitt «Kopf Ludwig Schames» (1918). Ludwig Schames (1852-1922), der in Frankfurt eine Galerie betrieb und seit 1913 die deutschen Expressionisten förderte, war der wichtigste Kunsthändler Kirchners. Im Auftrag des Frankfurter Kunstvereins entstand 1918 das monumentale und bewegende Porträt des Galeristen, das der Künstler nach aufwühlenden Jahren des Ersten Weltkrieges und inmitten einer schweren Suchterkrankung kurz nach seiner Übersiedlung in die abgeschiedenen Davoser Berge, Schweiz, schuf. Das Werk zeugt nicht nur von seiner Beobachtungsgabe, die charakteristischen Gesichtszüge Schames eindrücklich zu Blatte zu tragen, sondern auch von den eigenen dürftigen Lebensumständen dieser Zeit: Da Kirchner in den Bergen oberhalb von Davos keine Druckpresse zur Verfügung hatte, musste jedes Blatt mühsam von hinten mit einem harten Werkzeug über dem Block abgerieben werden.

Neben psychologisch eindringlichen Porträts, die das Individuelle der porträtierten Person erfassen und aus Kirchners direktem Umfeld entstammen – seien dies der Davoser Arzt Dr. Luzius Spengler, der Kunstkritiker Will Grohmann, der Künstlerfreund Paul Camenisch und viele weitere Weggefährten – wird in den Werken der Ausstellung auch gleichermassen die künstlerische Entwicklung am Beispiel der dargestellten Modelle beleuchtet. Das Porträt «Kopf Wehrlin» (1924-26), das Kirchners Schüler Robert Wehrlin (1903-1964) zeigt, befindet sich am Übergang vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit und Abstraction Création. Noch sind die drei Kriterien des Expressionismus, Übersteigerung von Form, Farbe und Gebärde, gegeben: Übergrosser Kopf im Verhältnis zum schmalen, kurzen Oberkörper, heftigste Farbkontraste flächig aufgetragen und erstarrte Gebärde sowie Blickrichtung leicht links am Betrachter vorbei. In dieser Erstarrung und in den flächig aufgetragenen Farben zeigt sich aber auch schon unübersehbar Neusachliches und Abstraktes, Beruhigtes und Verselbständigtes.

Wie sehr die Akte und Porträts die vielfältigen Inspirationsquellen des Künstlers bezeugen, lässt sich in der Farblithographie «Kopf Mary Wigman» (1926) ablesen. Während eines Aufenthaltes in Dresden im Januar 1926 besuchte Kirchner die Tanzschule von Mary Wigman. Viele Stunden beobachtete er als Zuschauer und Zeichner den von Wigman entwickelten Expressionistischen Tanz (New German Dance), ein anregender Moment der Begegnung für den Künstler, wie er in seinem Tagebuch dieser Zeit voller Enthusiasmus festhält: «Die neue Kunst ist da. M. W. [Anm.: Mary Wigman] benutzt vieles aus den modernen Bildern unbewusst, und das Schaffen eines modernen Schönheitsbegriffes ist ebenso in ihren Tänzen am Werke wie in meinen Bildern.“ In Wigmans freien, auf die Darstellung unterschiedlicher Gemütszustände angelegten Tanz fand Kirchner all jene Kriterien des Expressionismus wieder, die im Programm der «Brücke»-Jahre zuvor gemeinsam angelegt war: «Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."

Das künstlerische Credo, das Ernst Ludwig Kirchner im Jahre 1906 in Holz geschnitzt hat, war ein revolutionärer Aufruf, sich vom Akademismus dieser Zeit zu lösen und «unmittelbar und unverfälscht» das wiederzugeben, was den Künstler bewegt und anregt. Dies waren mitunter Frauen, insbesondere Akte, denn das Aktzeichnen war für die Mitglieder der «Brücke» eine der wichtigen Grundlagen ihrer künstlerischen Arbeit, die Quelle, die ihre Kunst nährte, aber auch den privaten Zusammenhalt der Gruppe in vielerlei Hinsicht entscheidend prägte.

Hierfür nutzte die Gruppe sowohl Bekannte und Freundinnen, als auch ihre eigenen Partnerinnen. Erich Heckels liebstes Modell war seine Freundin Siddi Riha (1891-1982), die er 1915 heiratete. Das Gemälde «Kind und nackte Frau» aus dem Jahr 1910 ist ein ausserordentlich ausdrucksstarkes und typisch expressionistisches Gemälde und zeigt Siddi als Akt in einer Landschaft sitzend. Zu ihrer Rechten ist ein bekleidetes junges Mädchen zu sehen, die damals knapp zehnjährige Lina Franziska Fehrmann («Fränzi») (1900-1950), das bedeutendste Kindermodell und eine in vielen Werken verewigte Muse der «Brücke»-Künstler. Das eindringliche Gemälde entstand während der Hochzeit der Künstlergruppe «Brücke». 1910 gilt ausserdem als Höhepunkt der engen Zusammenarbeit mit Kirchner. Zwischen 1909 und 1911 wagten die beiden Künstlerfreunde sich in den Sommern in die freie Natur und zeichneten ihre Modelle und ihre Frauen an den Moritzburger Teichen in ungezwungener Atmosphäre beim Baden. Oft malten beide Seite an Seite das gleiche Motiv. Während dieser Zeit entstand auch der Holzschnitt «Ballspielende» (1911) von Erich Heckel. 1912, ein Jahr vor Auflösung der Künstlergemeinschaft «Brücke», hatten Heckel und Kirchner gemeinsam mit ihren Modellen den Sommer in Fehmarn verbracht. Auch dies mündete in vielen Arbeiten von Akten in der Landschaft und am Strand, so wie in Heckels Radierung «Frauen am Strand» (1912) zu sehen ist. Auch Frauen aus dem Film fanden Eingang in das Werk von Erich Heckel. 1919 porträtierte er Asta Nielsen (1881-1972), in der Ausstellung zu sehen in einem Holzschnitt. Sie galt als populärster Filmstar Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Die Beziehung zwischen der expressionistischen Bewegung und dem Film war sehr eng und fruchtbar. Erich Heckel war nicht nur interessiert am Film, sondern galt vor allem im Bereich der deutschen Klassiker als sehr belesen. Diese Belesenheit zeigt sich im Holzschnitt «Roquairol» von 1917. Der Titel ist einer Figur des Romans «Titan» von Jean Paul entnommen, den der Dichter zwischen 1800 und 1803 verfasst hat. Roquairol ist darin ein typisch romantischer Charakter, überempfindsam, gespalten und von dem Wissen um die eigene Schuld tief belastet. Heckel identifizierte diese gebrochene Figur mit Kirchner und gab ihr im Holzschnitt die Züge seines alten Freundes. Das Werk entstand zu einer sehr schwierigen Zeit, in der die beiden Künstler bereits künstlerisch wie privat getrennte Wege gingen und zu Kriegszwecken einberufen wurden. 1915 musste Kirchner zu einer Militärübung nach Halle und hielt sich in der Folge in deutschen und schweizerischen Sanatorien auf, während Heckel bis zum Waffenstillstand als Sanitäter in Flandern arbeitete.

Frauenbildnisse ziehen sich auch noch Jahre später durch das Oeuvre Heckels, so entstanden 1921/22 eine Reihe von Zeichnungen und Aquarellen. Die Arbeiten zeigen seine schreibende, lesende oder auch schlafende Lebensgefährtin Siddi. Der Duktus dieser Blätter ist ganz dem Bildgegenstand angemessen, «gelassen und liebevoll im geklärten Bilde der Erscheinung seiner innigen Zuneigung»[9], zu sehen in der Lithographie «Frauenkopf (Siddi Heckel)» (1922).

In denselben Jahren schuf Otto Mueller, den seit der «Brücke»-Zeit eine enge Freundschaft mit Erich Heckel verband, ebenfalls Frauenbildnisse wie «Mädchen auf dem Kanapee» oder das Doppelporträt «Selbstbildnis mit Modell und Maske». Diese zeigt den Künstler selbst neben der 28 Jahre jüngeren Studentin der Breslauer Akademie Irene Altmann, zu der er eine Beziehung pflegte, die sich problematisch gestaltete, nicht zuletzt aus religiösen Gründen. In einer Reihe von Doppelporträts wie diesem, aber auch ganzfigürigen und allegorisch verfremdeten, versuchte Otto Mueller, seine «unglückliche Leidenschaft» kompensatorisch zu bewältigen. Die Maske über Irenes Kopf mit den erschrocken aufgerissenen Augen deutet auf das Prekäre der Situation hin. Bezeichnend ist, dass Irene hier die Züge Marias («Maschka») Mayerhofer trägt, von der er sich in diesem Jahre scheiden liess, mit der er aber immer wieder zusammentraf.

Ein Doppelporträt ist auch von Emil Nolde in der Ausstellung vertreten: «Doppelbildnis» aus dem Jahr 1937. Dieses ist angelehnt an eine Serie, die der Künstler in Aquarell schuf mit meist porträt-nah gesehene Halbfiguren oder Köpfe von ganz besonderer Farbstärke. Aus diesen Aquarellen zog er ausgerechnet im Schicksalsjahr seiner Kunst und der Kunst der gesamten Moderne eine Summe im schwarzweissen Holzschnitt. Selbstporträts sind im Werk von Nolde dagegen eher selten vorzufinden. Zudem verstecken diese sich, wie so oft bei den Künstlern seiner Generation, hinter allgemeinen Titeln wie «Kopf», «Mann» oder – wie in der Ausstellung gezeigten Radierung von 1908 «E.N.» – hinter Initialen.  Dies geschah auch bei Poträts anderer. Die Ergebnisse der Befragung des Selbst und des Anderen sollte zu allgemeinen Aussagen führen, zur Darstellung der «conditio humana».

Auch Max Pechstein vearbeitete und bearbeitete Thematiken seiner unmittelbaren Umgebung in seinen Werken. 1917 wird er von der Front nach Berlin als Bildbeobachter zur Luftwaffe versetzt. Das bringt ihm viel Zeit, in seinem Atelier zu arbeiten. Es sollte eines seiner fruchtbarsten Künstlerjahre werden. Insbesondere arbeitete er die Erfahrungen seiner durch den Krieg unterbrochenen Südseereise auf die Palau-Inseln von 1914/15 in zahlreichen Werken aller Techniken auf, was durch den Kriegsdienst bis dahin unmöglich war. Die meisten Südsee-Werke Pechsteins entstanden 1917, so auch der Kopf mit besonderem Schmuck in der Holzschnittfolge «Exotische Köpfe», der in der Ausstellung gezeigt wird.

Karl Schmidt-Rottluff war während des Ersten Weltkrieges in der Pressestelle im litauischen Kowno stationiert. Er hatte das Glück in dieser Zeit weiterhin künstlerisch tätig sein zu können. Neben einigen Landschaftsdarstellungen und religiösen Motiven entstand auch das Portrait eines Mädchens aus Kowno. Wie seine Portraits in den vorangegangenen Jahren, zeigt auch dieses kaum individualisierte Gesichtszüge. Das Gesicht erinnert mehr an die exotischen Masken der Südsee, welche die Künstler der «Brücke» zu ihren Werken inspirierten. In Kowno schuf Schmidt-Rottluff auch über 40 Skulpturen, darunter zahlreiche Köpfe, die u. a. an afrikanische Vorbilder angelehnt sind. Der gezeigte Holzschnitt ist daher im Zusammenhang mit den gleichzeitig entstandenen Skulpturen zu sehen.

Die Gattung der Skulptur wird in der Ausstellung repräsentiert durch den frühesten deutschen Bildhauer der Abstraktion: Karl Hartung (1908-1967). Dieser näherte sich auf seinem Weg einer vom Gegenstand gelösten absoluten Formensprache doch immer wieder der Figur, vor allem der Menschendarstellung. Er schuf zahlreiche weibliche und männliche Akte von hohem Abstraktionsgrad in fliessenden Oberflächen jedoch mit eindeutiger Lesbarkeit. Die organisch abstrakten und menschlichen Formen sind in der Ausstellung in sechs Plastiken des Künstlers nachzuvollziehen.

Die Künstler der «Brücke» liessen sich von all den «Momenten der Begegnung» zu zahlreichen Werken inspirieren, dabei diente ihre Lebenssituation oder bestimmte Modelle als Vorlage und Inspirationsquelle. Diese Momente lassen sich anhand der Gemälde, Zeichnungen und Grafiken in der Ausstellung nachverfolgen. Einige können dabei genauestens benannt werden, andere bleiben bis heute unbekannt,

Wir laden Sie in der Ausstellung ein, sich auf die Reise zu den Lebensgeschichten der «Brücke»-Künstler zu begeben und dabei ihre persönlichen «Momente der Begegnung» mit den Kunstwerken zu schaffen.

Susanne Kirchner und Katharina Sagel

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